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Streit über Sexualkunde "Jugendliche gucken doch eh Pornos"

Sie gab ein Buch über Sexualaufklärung heraus und erhielt daraufhin Morddrohungen. Im Interview spricht die Wissenschaftlerin Elisabeth Tuider über die Angriffe. Und erklärt, wann Pädagogen über Analsex reden sollten.
Sexualkundeunterricht in Hannover (Archivbild): Die Jugendlichen geben die Themen vor

Sexualkundeunterricht in Hannover (Archivbild): Die Jugendlichen geben die Themen vor

Foto: Julian Stratenschulte/ picture alliance / dpa
ZUR PERSON
Foto: Privat

Elisabeth Tuider, Jahrgang 1973, ist Professorin an der Universität Kassel, wo sie das Fachgebiet Soziologie der Diversität leitet. Ihre Schwerpunkte sind Genderforschung, Sexualpädagogik und Prävention von sexueller Gewalt.

SPIEGEL ONLINE: Frau Tuider, in diesem Sommer haben Sie Mord- und Vergewaltigungsdrohungen erhalten, der Autor Akif Pirincci würde sie gern im "Knast verrotten" sehen, die AfD-Politikerin und EU-Parlamentarierin Beatrix von Storch nennt Sie "pervers". Was ist da los?

Tuider: Warum ich als Person in diesen heftigen Shitstorm geraten bin, weiß ich nicht. Genderforschung und Sexualpädagogik kennen das Problem der Diffamierung allerdings schon länger. Bei mir war der scheinbare Auslöser ein ganz normales wissenschaftliches Buch, das ich schon vor einigen Jahren mit Kollegen herausgegeben habe. Dafür hatten wir Sexualpädagogen im gesamten Bundesgebiet gebeten, uns bewährte Methoden zuzusenden. Herausgekommen ist eine Materialsammlung, erschienen in einem hoch angesehenen Fachverlag.

SPIEGEL ONLINE: In "Sexualpädagogik der Vielfalt" kommen auch Gangbang, Analverkehr und Taschenmuschis vor, es werden Fragen gestellt wie: "Wo könnte der Penis sonst noch stecken?"

Tuider: Unser Ansatz ist: Die Jugendlichen geben die Themen vor - nicht die pädagogisch Tätigen. Und machen wir uns nichts vor: 70 Prozent der 13-jährigen Jungs und 30 Prozent der Mädchen sehen regelmäßig Pornografie - und haben Fragen dazu. Ob eine Schülergruppe über Prostitution, Oralverkehr oder Schmetterlinge im Bauch reden will, entscheidet sie selbst. Die Fachkräfte, die zumeist von außen in die Schulen kommen, finden in unserem Buch dann Vorschläge für Übungen, um mit den Teenagern darüber ins Gespräch zu kommen. Grundregel ist: Jeder und Jede kann jederzeit aussteigen. Und Lehrpersonen müssen die Methoden auch nicht umsetzen, sie sind nicht verpflichtend.

SPIEGEL ONLINE: In dem Vorwort schreiben Sie, zur dekonstruktivistischen Sexualpädagogik gehöre die "Verstörung von Selbstverständlichkeiten". Sind Pubertierende nicht schon genug verstört?

Tuider: Mit Verstören meinen wir, dass zum Beispiel beim Thema Homosexualität gängige Vorurteile infrage gestellt werden, um den Jugendlichen zu zeigen: Du kannst in der Vielfalt, die ohnehin längst Realität ist, selbstbestimmt entscheiden, wie du leben und lieben möchtest.

SPIEGEL ONLINE: Genau das geht vielen zu weit. In Baden-Württemberg tobt seit Monaten ein Schulstreit, Kritiker wehren sich gegen "sexuelle Vielfalt" als Lernziel. Eltern haben Angst, die Kontrolle zu verlieren - und zwar nicht nur die streng katholischen.

Tuider: Welche Kontrolle? Wir alle sind einer medialen Öffentlichkeit ausgesetzt, deren Einflüsse nicht kontrollierbar sind. Die Schule ist ein sehr wichtiger Ort für Sexualerziehung, sie hat auch den Auftrag dafür, nimmt den Eltern aber nichts weg. Für falsch halte ich jedoch, wenn Sexualpädagogik nur Verhütungsaufklärung im Biologieunterricht bedeutet. Sie muss fächerübergreifend passieren, das hat die Kultusministerkonferenz bereits 1968 geregelt. Auch sexuelle Vielfalt in Bildungsplänen ist nicht neu - warum jetzt die große Aufregung?

SPIEGEL ONLINE: Ja, warum?

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Foto: Franziska Kraufmann/ picture alliance / dpa

Tuider: Die Vielfalt von Geschlechtern, Sexualitäten und Lebensformen hat sich im politischen und gesellschaftlichen Leben etabliert - es gibt eingetragene Lebenspartnerschaften, und Conchita Wurst gewinnt den Eurovision Song Contest. Genau das macht einigen Menschen offenbar Angst: Sie denken, sie seien umzingelt von neuen Lebensentwürfen, die ihnen ihre Macht streitig machen. Verstärkt werden die Angriffe durch einen anonymen Cybersexismus und einen salonfähig gewordenen Antifeminismus.

SPIEGEL ONLINE: Wer steckt dahinter?

Tuider: Studien zeigen, es sind vor allem Menschen, welche die Männlichkeit oder die Mittelschicht in Gefahr sehen, weil ihr Berufs- und Privatleben gefühlt unsicherer und unplanbarer geworden ist. Diese Ängste werden aufgegriffen, als Stimmungsmacher benutzt und geschürt von Vertretern aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern: Linke, Konservative und Rechtsextreme sind darunter.

SPIEGEL ONLINE: Und ein Verein gegen sexuellen Missbrauch, dessen Vertreterin in der "FAZ" sagte, die Sexualpädagogik der Vielfalt könnte eine neue Form sexualisierter Gewalt sein, die sexuelle Übergriffe durch Jugendliche fördere. Und dass Pädosexuelle in den Achtzigerjahren Missbrauch als fortschrittliche Sexualpädagogik verkauft hätten.

Tuider: Ich weiß nicht, wie dieses Zitat zustande gekommen ist. Ich forsche selbst zu sexualisierter Gewalt, und wir wollen ja im Gegenteil Jugendliche befähigen, Nein zu sagen, wenn sie etwas nicht möchten. Auch dazu gibt es Übungen in unserem Buch. Die Prävention von Gewalt ist Bestandteil von Sexualpädagogik.

SPIEGEL ONLINE: Liegt es vielleicht daran, dass Ihre Richtung der Sexualpädagogik von dem mittlerweile verstorbenen Helmut Kentler begründet wurde, einem umstrittenen Reformpädagogen, dem die Verharmlosung von Pädophilie vorgeworfen wird?

Tuider: Ich distanziere mich klar von Herrn Kentlers Sichtweise auf Pädophilie. Gleichwohl hat seine wissenschaftliche Arbeit die Sexualpädagogik weiter gebracht. Kentler hat in seinen zehn Thesen der Sexualerziehung das Glück der Heranwachsenden in den Vordergrund gestellt und damit der sexuellen Bildung eine neue Perspektive gegeben, die sich an den Jugendlichen orientiert.

SPIEGEL ONLINE: Kentler hat auch gesagt, sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern könnten durchaus beide glücklich machen und seien kein Missbrauch - solange keine Gewalt angewendet würde. Und er soll unter anderem Straßenkinder in WGs mit Männern untergebracht haben, die wegen sexuellen Missbrauchs vorbestraft waren.

Tuider: Nochmals, dieses Projekt war schon zu Kentlers Zeit in der Sexualpädagogik mehr als umstritten. Nach heutigem Stand der Wissenschaft würde so etwas nicht mehr stattfinden. Sie finden in unserem Buch keine Äußerung, wonach Sexualpädagogik Pädophilie unterstützt oder fördert. Und ich sage das auch nicht.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben 2008 einen würdigenden Nachruf auf Herrn Kentler geschrieben. Wo ziehen Sie die Grenze?

Tuider: Wir in der heutigen Sexualpädagogik distanzieren uns von Herrn Kentlers Umgang mit Pädophilie. In dem Nachruf haben wir seine wissenschaftliche Arbeit in den Vordergrund gestellt.

SPIEGEL ONLINE: Kentler hat sexuelle Verhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen befürwortet. Kann man da überhaupt zwischen dem Arbeits- und dem Privatmenschen trennen?

Tuider: Ja. Kentler hat für die Theorie der Sexualerziehung viel getan. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit hat er auch in Kitas und Schulen Elternabende und Lehrerfortbildungen veranstaltet. Ich traue auch anderen Menschen zu, dass sie ein Lebenswerk differenziert beurteilen können. Und gerade heute stehen wir doch in der Sexualpädagogik an dem Punkt, dass wir Kinder befähigen, nicht zu schweigen, nicht zu ertragen, sondern zu thematisieren.

SPIEGEL ONLINE: In dem Nachruf auf Kentler haben Sie seine mutmaßliche Verbindung zu Pädophilen nicht mit einem Wort erwähnt.

Tuider: Nein, wir haben das wissenschaftliche Werk gewürdigt. Es wäre kein Nachruf, wenn man eine Person niedermacht.