Alle Utopien haben ein Problem gemein, sie enden an einer Grenze: der unseres Vorstellungsvermögens. Wir können nur die Bilder träumen, die wir schon mal gesehen haben, und selbst solche Zukunftsvorstellungen, die uns heute maximal radikal erscheinen, leiten sich aus dem Bekannten ab, dem gegenwärtig Existierenden. Bestes Beispiel dafür sind die Ideen einer postkapitalistischen und postpatriarchalen Gesellschaft, die sich, wie die Begriffe schon verraten, eben vor allem auf das beziehen, was sie überwinden möchten.

Ein anderes Konzept, mindestens so verwurzelt wie Kapitalismus und Patriarchat, ist das der Familie. Eine Welt ohne Familien, das scheint nicht nur konservativen Politikern und Politikerinnen unvorstellbar, die ja gern von der Familie als Kernzelle der Gesellschaft sprechen. Eine Welt ohne sie wirkt auch deshalb so fern, weil damit vermeintliche Naturgesetze infrage gestellt würden. Eltern und ihre Kinder – was soll das anderes sein als eine Familie?

Dennoch wird diese Idee gerade stark diskutiert, vor allem in der englischsprachigen linken Academia, wo family abolition fast zu einer selbstverständlichen Forderung geworden zu sein scheint. Ein Auslöser der neuerlichen Debatte ist das Buch der britischen Theoretikerin Sophie Lewis. Full Surrogacy Now heißt die Streitschrift und ist im Mai in englischer Sprache beim linken Verlag Verso Books erschienen, der auch schon Judith Butler und Noam Chomsky herausgegeben hat. Die Wissenschaftshistorikerin und Biologin Donna Haraway, die in ihrem Buch Unruhig bleiben zuletzt programmatisch "Macht euch verwandt, nicht Babys!" von ihren Leserinnen und Lesern forderte, schrieb dem Verlag eine begeisterte Empfehlung: "Full Surrogacy Now ist der ernsthaft radikale Aufschrei für vollständige Schwangerschaftsgerechtigkeit, auf den ich gehofft habe." Zahlreiche Kritikerinnen empfahlen Lewis' Buch ebenfalls.

Der ebenso stramm rechte wie journalistisch halbseidene Fox-News-Moderator Tucker Carlson wies auf seine spezielle Art auf das Buch hin: Er benutzte in seiner Sendung, selbstredend aus dem Zusammenhang gerissen, einen kurzen Ausschnitt aus einem Video des Verlags, in dem Lewis Abtreibung als "eine Form des Tötens" bezeichnet. Tucker wollte damit nach eigenem Bekunden belegen, "ehrliche Linke" würden das wenigstens "zugeben". Lewis veröffentlichte später auf Twitter eine Mail der Carlson-Redaktion mit einer Einladung, in die Sendung zu kommen, die Lewis dankend ablehnte.

Full Surrogacy Now handelt wenig von Abtreibung. Die Autorin, die in Philadelphia wohnt und am Brooklyn Institute for Social Research arbeitet, entwirft einen "Feminismus gegen die Familie", so der Untertitel des Buches. Lewis konzentriert sich dabei zunächst auf ein Thema, das auf den ersten Blick fast abseitig erscheint: das Prinzip und Geschäft von Leihmutterschaft ("surrogacy"). In den meisten Fällen, schreibt Lewis, seien es Frauen in Indien, Kambodscha oder Kenia, die dafür bezahlt würden, dass sie Kinder von weißen, westlichen Paaren austrügen. Die Leihmütter produzierten unter meist prekären Bedingungen und besser noch, sie produzierten dort, wo sie leben: weit weg. Full Surrogacy Now ist eine materialistische Kritik der bestehenden Leihmutterindustrie, aber keine Kritik der Idee. Im Gegenteil. Und genau an dieser Stelle wird es besonders interessant.

So werdet alle Leiheltern

Lewis skizziert in ihrem Buch eine Welt, in der die bis dato neokolonial-ausbeutende Praxis der Leihelternschaft obsolet würde, weil wir alle Leiheltern würden; eine Welt, in der Kinder niemandem mehr gehörten und sich deshalb auch keine Gebärmütter mehr geliehen werden müssten. Lewis stellt sich vor, wie es wäre, wenn wir Familien nicht mehr bräuchten, weil die Gesellschaft ausreichend Fürsorge und Nähe spendete, sie schreibt von "Polymutterschaften" und "Schwangerschaftskommunismus". Und ihre Hauptforderung lautet: "Wir müssen Wege finden, um der Exklusivität und Vormachtstellung 'biologischer' Eltern im Leben von Kindern entgegenzuwirken."

Was Lewis auf 224 Seiten als analytische Utopie ausbreitet, wird manchen Lesern gewiss als Dystopie erscheinen, als Provokation aus der akademischen bubble. Wie könnte es auch anders sein? Es ist schließlich ein Angriff auf Traditionen und Sicherheiten, eine Strapaze für unsere geistigen Kapazitäten. Wie wir uns fortpflanzen und organisieren, wie wir über Erziehung, Natur, Arbeit und Beziehungen nachdenken – all das könnte fundamental anders sein, schreibt Lewis. Und müsste es auch, im Sinne einer emanzipatorischen Revolution.

Kern dieser Revolution ist die Überwindung der Familie, eine Forderung, mit der Lewis längst nicht allein ist. Sie bezieht sich auf eine Reihe junger queerer Theoretikerinnen, die dazu forschen und schreiben. Jules Joanne Gleeson und Kate Doyle Griffiths zum Beispiel, die 2015 einen Essay mit dem Titel Kinderkommunismus veröffentlichten, "eine Analyse der Beziehungen zwischen Familie, Gender und der Reproduktion des Kapitalismus". Oder die in Sydney lehrende Professorin Melinda Cooper, die in ihrem Buch Family Values aufzeigt, wie zentral die "Kernfamilie" nicht nur für "sozial Konservative", sondern auch für Neoliberale sei (in der Boston Review erschien ein Essay, der aus dem Buch destilliert war). Im Mittelpunkt beider Ideologien stehe am Ende, wie Cooper erklärt, immer noch die weiße, heterosexuelle Familie, als moralische und ökonomische Norm.