Interview

Strafverteidiger Udo Vetter: «Der Staat eröffnet mit diesem Gesetz auch Exhibitionisten die Möglichkeit, sich ganz legal Zutritt zu Schutzräumen für Frauen zu verschaffen»

Udo Vetter hat Hunderte Sexualstraftäter verteidigt. Auch deshalb ist der Anwalt entsetzt über das geplante deutsche Selbstbestimmungsgesetz. Ein Gespräch über Transsexuelle und Trittbrettfahrer, Männer in Frauenduschen und besorgte Eltern.

Beatrice Achterberg, Berlin 131 Kommentare
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Udo Vetter sieht eine Missbrauchsgefahr durch das geplante Selbstbestimmungsgesetz in Deutschland.

Udo Vetter sieht eine Missbrauchsgefahr durch das geplante Selbstbestimmungsgesetz in Deutschland.

Udo Vetter

Herr Vetter, die Ampelkoalition plant mit dem Selbstbestimmungsgesetz eine freie Geschlechtswahl. Was halten Sie davon?

Dieses Gesetz macht mich fassungslos. Die Rechte transsexueller Menschen müssen erleichtert werden, das ist ein berechtigtes Anliegen. Was mich als Juristen aber irritiert, ist das Schrankenlose. Alle Menschen, auch diejenigen, die nur Spass daran haben, ihr Geschlecht zu ändern, sollen das durch eine einfache Erklärung bei einer Behörde tun können. Für mich ist das unbegreiflich. Wer als Bürger zum Beispiel Wohngeld beantragen will, muss auch nachweisen, dass er anspruchsberechtigt ist.

Aber ist es nicht viel unwahrscheinlicher, dass jemand nur aus Spass sein Geschlecht wechselt, als dass jemand unberechtigt Wohngeld beantragt?

Wenn Sie als Bürger nicht darlegen müssen, warum Sie staatliche Hilfe benötigen, sind Sie unter Umständen verleitet, das auszunutzen. Beim geplanten Selbstbestimmungsrecht soll es noch einen Schritt weiter gehen. Da wird das Geschlecht zur Disposition des Einzelnen gestellt. Ich als Mann muss nicht einmal begründen, warum ich künftig eine Frau sein möchte. Es reicht, dass ich es möchte. Ich kann dazu nur Folgendes sagen: Wo immer der Staat solche Möglichkeiten eröffnet, werden sie auch genutzt.

Noch einmal: zum Spass?

Ja, genau das glaube ich: zum Spass, aus politischem Protest oder um einen Vorteil zu gewinnen. Wir leben in einer Zeit der Polarisierung, und dieses Gesetz wäre offensichtlich dazu geeignet, zu polarisieren. Teenager könnten ihr Geschlecht als Ausdruck einer Rebellion ändern. Auch Leistungsvorzüge sind ein denkbarer Grund. Es gab in der Schweiz einen Fall, in dem ein Mann kurz vor dem Renteneintritt die Rente als Frau beantragte, weil Frauen die Rente dort ein Jahr früher zur Verfügung gestellt wird.

Erfahrungen aus den USA und England zeigen Ähnliches. In England wird es Strafgefangenen ermöglicht, im Rahmen einer Selbstidentifizierung als Frau in den Frauenvollzug zu gehen, was tatsächlich zahlreich beantragt wird. In den USA wurden Insassinnen von selbsterklärten Transfrauen, die biologische Männer waren, geschwängert.

In der Schweiz können Bürger seit Anfang des Jahres frei wählen, ob sie Mann oder Frau sein möchten. Das Land scheint bisher kaum schlechte Erfahrungen mit der neuen Regelung gemacht zu haben.

Das ändert an meiner Einschätzung der Gefahren nichts. Die Schweiz ist ein kultiviertes Land mit kleiner Bevölkerungszahl. Den Medien aus England und den USA kann man entnehmen, dass sich wegen dieser Möglichkeit zur Selbstidentifizierung ein Sturm zusammenbraut. Die Frage ist auch, ob Übergriffe in den Kriminalstatistiken korrekt erfasst werden. Ich bin Strafverteidiger. Ich weiss, dass dieses Gesetz für Teile der Klientel, die ich vertrete, verführerisch wäre.

Können Sie Ihre Klientel beschreiben?

Ich bin seit dreissig Jahren ausschliesslich als Strafverteidiger tätig und habe Hunderte Sexualstraftäter verteidigt. Das gibt mir Einblicke in Täterpersönlichkeiten. Dieses Gesetz würde nicht nur für rational denkende Menschen gelten, sondern auch für Menschen, die triebgesteuert sind. Wenn der Staat jetzt die Möglichkeit eröffnet, dass man durch eine blosse Erklärung zum Beispiel keinen Exhibitionismus mehr begehen kann, dann kann das ein Exhibitionist ausnutzen. Dieser Straftatbestand ist auf Frauen nicht anwendbar.

Nur Männer können Exhibitionisten sein?

Laut Gesetz ja! Der Staat eröffnet mit diesem Gesetz auch Exhibitionisten die Möglichkeit, sich ganz legal Zutritt zu Schutzräumen für Frauen zu verschaffen. Das ist ein Punkt, den man einfach sehen muss: Wenn sich der Mann per Selbstbestimmung zur Frau macht und damit vor dem Gesetz als Frau gilt, darf ich ihn am Eingang nicht mehr kontrollieren. Und ich darf ihn nicht rausschmeissen, wenn er sich in der Umkleide auszieht und sich in voller Pracht präsentiert.

Hat der deutsche Justizminister Marco Buschmann dieses Problem übersehen?

Das kann ich Ihnen leider nicht erklären. Hier wird ein derartiges Missbrauchspotenzial präsentiert, da kann man sich nur an den Kopf fassen. Eine Gesellschaft funktioniert nur, wenn die wechselseitigen Interessen der Bürger gesehen werden und in einen gerechten Ausgleich gebracht werden. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, wieso derartige Rechte nun mit der Giesskanne gewährt werden sollen. Transpersonen, die wirklich im falschen Geschlecht gefangen sind, sind ja nicht das Problem. Die Frage lautet: Wieso muss das jeder machen dürfen? Mindestens fünfzig Prozent der Bevölkerung, nämlich Frauen, müssen Angst davor haben, dass ihnen künftig ihre Schutzräume genommen werden.

Das halbe Land muss sich vor diesem Gesetz fürchten?

Die vorliegenden Eckpunkte zum Selbstbestimmungsgesetz schrauben die erforderlichen Selbstauskünfte und die medizinische Kontrolle auf null herunter. Die Missbrauchsgefahr ist dadurch einfach zu gross. Dabei kann sie leicht aus der Welt geschaffen werden: indem man vernünftige Anforderungen stellt, die auf die Interessen der anderen, potenziell beeinträchtigten Menschen Rücksicht nehmen – also Frauen, Kinder und Jugendliche.

Wie könnte eine solche Anforderung aussehen?

Ich denke an die gesetzliche Lösung, die wir beim Schwangerschaftsabbruch haben. Früher musste eine Frau ein wahres Martyrium durchstehen und sich inquisitorisch befragen lassen. Heute gibt es die sogenannte Beratungslösung. Warum keine Beratung für Menschen, die sich anders wahrnehmen, als ihre Biologie es vorgibt? Wenn du dein Geschlecht ändern möchtest, dann mach zuerst ein Beratungsgespräch. Die beratende Person müsste sagen können: Komm, veräppeln kann ich mich allein; ich werde keinen Menschen zur Frau machen, bei dem es offensichtlich ist, dass er nicht zur Zielgruppe des Gesetzes gehört.

Sie haben sich mehrmals öffentlich zum Selbstbestimmungsgesetz geäussert. Wer hat sich danach bei Ihnen gemeldet?

Vor allem Mütter und Väter, die dieses Gesetz umtreibt. Die wollen ihre Kinder zu eigenständigen Wesen erziehen und sie nicht noch mit 14 Jahren ins Schwimmbad begleiten müssen. Aber es bestünde das realistische Risiko, dass Kinder in Umkleiden und Duschen auch mit Menschen konfrontiert werden, die eben keine schützenswerten und vom Gesetz gemeinten Transpersonen sind, sondern die Situation missbrauchen wollen.

Plötzlich steht ein Mann in der Frauendusche.

Ja. Ein grosses Missverständnis ist, dass Menschen, die per Gesetz ihr Geschlecht ändern wollen, auch in irgendeiner Form angehalten sind, ihr Erscheinungsbild zu ändern. Das wäre aber nicht so. Ich kann mein Leben als Mann normal weiterleben und bin nach aussen der Macker, breitbeinig und mit Vollbart – und zugleich kann ich verlangen, dass ich als Frau behandelt werde und eben auch Zutritt zu solchen Schutzräumen erhalte. Ich habe in dreissig Jahren als Strafverteidiger wirklich alles erlebt. Ich habe grosse Missbrauchsfälle verteidigt, wo Kindern und Jugendlichen unsagbar schlimme Dinge passiert sind. Es gilt der Grundsatz: «Gelegenheit macht Diebe.» Auch deshalb wird die Kritik in den USA lauter über die Okkupation der Schutzräume und die «chilling effects», die sich daraus ergeben. Von «chilling effects» sprechen Juristen, wenn Bürger sich selbst beschränken, um einem möglichen Schaden zuvorzukommen. Das würde hier auch passieren.

Was heisst das konkret?

Die «chilling effects» werden eintreten, sobald Sie den ersten Missbrauchsfall haben, wenn zum Beispiel ein Exhibitionist nicht mehr belangt wird, weil er als Frau eingetragen ist. Mütter und Väter von minderjährigen Kindern werden anfangen, Schwimmbäder oder auch Diskotheken für zu riskant zu halten und den Besuch zu verbieten. Die Freiheit endet so schon vor dem konkreten Missbrauch.

Welche Folgen hätte das Gesetz für die Berufswelt?

Das Gesetz macht Frauenquoten und Frauenförderung obsolet. Wenn ein Mann künftig im Management eines Unternehmens Karriere machen will, in dem eine Quotenregelung gilt, kann er dieses Gesetz ausnutzen. Was wollen Sie machen? Sie dürften nicht mehr sagen: Wir haben den Verdacht, dass Sie keine Frau sind. Im Zweifel könnte der Mann Sie anzeigen.

Halten Sie dieses Szenario wirklich für realistisch?

Absolut, das ergibt sich aus dem vorliegenden Eckpunktepapier der Ampelregierung. Im Prinzip handelt es sich um ein sogenanntes Offenbarungsverbot; wer jemanden beim alten oder falschen Namen nennt, dem soll ein Bussgeld von bis zu 2500 Euro drohen. Wenn das Gesetz so kommt, dann wird das biologische Geschlecht de facto für obsolet erklärt. Da kann auch kein Arbeitgeber mehr sagen: Bei uns gilt das nicht, wir haben unsere eigenen Regeln.

Was halten Sie von der geplanten Möglichkeit, das Geschlecht nicht nur einmal, sondern einmal im Jahr zu wechseln?

Das zeigt, wie undurchdacht dieses Gesetz ist. Und es muss auch bei Transpersonen auf Unverständnis stossen, deren Problematiken nachvollziehbar sind und . . .

. . . oft ein ganzes Leben andauern.

Eben. Die ganze Last von genuinen Transpersonen wird durch dieses beliebige Wahlrecht lächerlich gemacht. Die Wissenschaft sagt, dass die Zahl der Menschen, die meinten, nicht mit dem richtigen Geschlecht zu leben, deutlich unter einem Prozent liege.

Man kann das Gesetzesvorhaben aber auch als fortschrittlich bewerten: Warum soll man in einer freien Gesellschaft nicht frei über seine geschlechtliche Identität entscheiden können?

Wir kennen das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung. Die Grenzen dafür sind immer die Rechte anderer. Die wollen ihre Persönlichkeit auch frei entfalten.

Blogger und Anwalt

Der 1964 geborene Udo Vetter verteidigt auch Menschen, denen andere nicht die Hand geben würden, etwa Vergewaltiger. Dass Vetter seit Jahrzehnten in die Abgründe der menschlichen Seele blickt, hört man seiner freundlichen Plauderstimme nicht an. In Deutschland ist er vor allem für seinen «Law Blog» bekannt, einen der meistgelesenen Jura-Blogs des Landes. 

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Gernot Bruns

Ich kann die zutreffenden Ausführungen des Kollegen nur bestätigen. In meiner langen Praxis als Strafverteidiger mit einer Vielzahl unterschiedlichster Sexualstraftaten habe ich mich mit den Täterpersönlichkeiten intensiv auseinandersetzen müssen. Da es sich um Täter handelt, die überwiegend (Rache und Unterdrückung spielen im normalen gesellschaftlich Leben nur eine Nebenrolle) triebgesteuert sind, werden diese alles daran setzen, Erfüllung zu suchen. Bietet diesem Personenkreis nunmehr der Gesetzgeber die Möglichkeit, per einfacher Erklärung den "Wirkungsbereich" zu vergrößern, so werden sie von diesem Angebot gern Gebrauch machen.  Mich erinnert dieses gesamte Gesetz an das kleine Kind, das sich beim Versteckspiel nur die Hände vor die Augen hält und behauptet es sei nicht da. Oder mit anderen Worten: Hart aber restlos an der Realität vorbei und ein Wunschdenken offenbarend, das an Naivität nicht zu übertreffen ist.. 

R. E. B.

Bei einer Regierung, in der Politiker ihre Bildungsabschlüsse "selbstbestimmt" entscheiden können und damit zum Minister:in*nen avancieren, ist so ein "Selbstbestimmunsgesetz" nur folgerichtig. Das Leben im Selbstbedienungsladen der Wünsche ist eben nicht nur Politikern und steuerbezahlten Intendanten vorbehalten, sondern wird nun auch ein Stück weit dem gemeinen Volke eröffnet. Genau so muss Demokratie sein. Und jenseits des tragischen Klamauks: NATÜRLICH IST DAS EINE KREUZGEFÄHRLICHE BEDROHUNG FÜR FRAUEN UND MÄDCHEN. Und natürlich werden bestimmte Leute dann in den Umkleiden auftauchen. Ganz einfach weil es geht.

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